Nur Fummel, nicht fummeln
Die Ankündigung der Stadtbibliothek München für eine Kinderlesung in Bogenhausen klingt eigentlich ganz harmlos. „Drag Queen Vicky Voyage mit Drag King Eric BigClit und die trans*Jungautorin Julana Gleisenberg (13 Jahre alt) nehmen euch mit in farbenfrohe Welten, die unabhängig vom Geschlecht zeigen, was das Leben für euch bereithält und dass wir alles tun können, wenn wir an unseren Träumen festhalten!“ Vielleicht stolpert der ein oder die andere ja über die Kombination Drag Queen und Kinderbuchlesung, aber das wird inhaltlich gleich eingeordnet: „Sie lesen aus Bilderbüchern vor, die von den unterschiedlichsten Held:innen erzählen: Jungs in Kleidern, Prinzessinnen mit ihrem eigenen Willen, den Farben Blau und Rosa, von Kaninchen und Füchsinnen, dem Entdecken der eigenen Freiheit und vielem mehr.“ Also alles Bücher, die ob ihrer Vielfalt in der Darstellung hochgelobt und überall frei erhältlich sind. Und wer mehr wissen will: „… tauscht euch im Anschluss gerne mit unseren Vorleser:innen aus! Bilderbuchkino und Lesung für Familien mit Kindern ab 4 Jahren“ und nur mit Anmeldung.
Das reichte aus, um den knallharten Ron de Santis in konservativen Politiker:innenkreisen zu wecken. Hubert Aiwanger, Vorsitzender der Freien Wähler, dazu Wirtschaftsminister in Bayern, ist das alles „unheimlich“, er stolpert schon über den Namen Eric Big Clit, biologisch korrekt von ihm als „große Klitoris“ übersetzt, „der Name spricht schon gegen solche Auftritte“ und beim Googeln von „Vicky Voyage“ findet man „Personen, die mit Leichenteilen von Kindern drapiert sind“ und das hat für ihn gar nichts mehr mit „künstlerischer Freiheit und Weltoffenheit“ zu tun. Kleiner Hinweis: Nachdem Herr Aiwanger offenbar berufliche viel und lange googelt, wird einem nun die Bildersuchanfrage „Vicky Voyage L …“ direkt mit „Leichenteilen“ vervollständigt, wobei es sich korrekterweise nicht um Leichenteile handelt – vielleicht schaut Herr Aiwanger einfach zu viele Splatterfilme, sondern um in einem Halloween-Kostüm verwendete Puppenköpfe und Extremitäten. Bis dann der Begriff „Kindswohlgefährdung“ und der Satz „wehret den Anfängen“ fallen und eine solche Veranstaltung nie hätte erlaubt werden dürfen, seiner Meinung nach.
CSU-Generalsekretär Martin Huber trötete auf Twitter ins gleiche Horn: „Lasst Kinder einfach Kinder sein… Vierjährige sollten mit Bauklötzen oder Knete spielen und nicht mit woker Frühsexualisierung indoktriniert werden.“ War ja klar, dass die Kampfbegriffe Frühsexualisierung und Woke in diesem Zusammenhang auftauchen müssen, wo es nur um Geschlechtlichkeit und Geschlechterrollen geht.
Zurück zu Hubert Aiwanger: Seine Aussagen fielen in einem am 8.5.2023 geführten Videointerview mit der WELT, und sie waren die Antwort auf die Frage der Moderatorin nach der Aufregung um diese Veranstaltung, denn es handele sich ja um „eine Lesung, zu der kann man gehn, muss man aber nicht.“ Was er geflissentlich überhörte und unbeantwortet ließ.
Darum irren Herr Aiwanger und seine Claqueure. Auch diese Lesung ist zuallererst durch die Kunstfreiheit gedeckt, auch wenn es der konservativen Agenda von mit Bauklötzen und Knete (aus der man wunderbar Vulven und Penisse formen könnte, nur als Tipp) im finanziell durchs Familiengeld gepolsterten Helicoptermutterschonraum spielenden bayrischen Kindern widerspricht. Niemand wird zur Teilnahme gezwungen, sie ist freiwillig.
Und für die Antwort von Eric BigClit auf die Kritik an der Lesung gibt es noch einen Extra-Punkt: „Dass Menschen darüber besorgt sind, dass verkleidete Menschen Kindern aus Büchern vorlesen, verstehe ich nicht. Das macht traditionell auch der Nikolaus.“ Denn: „Es gilt daher, Drag Queens aus Kinderaugen zu betrachten: Es sind wild geschminkte, bunt angezogene Menschen. Ohne jegliche Beurteilung.“ sagt die Psychologin und Geschäftsführerin der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit Caroline Culen. Nicht mehr. Und nicht weniger. Und schon gar nicht gefährlich. Weitervorlesen!
(Illustration: Jessica Love: Julian ist eine Meerjungfrau. Knesebeck 2020, ab 4 Jahre)