Erbarme, die Hesse komme!

Die IGLU 2021-Studienergebnisse liegen auf dem Tisch, und in allen Kultusministerien der Bundesländer stellt sich Entsetzen ein. In allen? Nö. Hamburg hat in den vergangenen Jahren sich nachweislich nach oben gearbeitet und die meisten Plätze in Bildungsrankings aufgeholt. Da wird viel richtig gemacht, ist das Credo. Warum? Weil die Hamburger von den Besten der Besten lernen. Den Hessen. Hätte man bisher nicht gedacht. Ist aber so. Sagte zumindest der hessische Kultusminister Prof. Dr. R. Alexander Lotz am 16. Mai im Deutschlandfunk. Und er hat viel Positives aus dem Land des Gerippten zu berichten.

“Hamburg vollzieht aber bis zu einem gewissen Grad nach, was wir in Hessen schon vor einigen Jahren vollzogen haben, also so ziemlich genau vor 20 Jahren.“ Gemeint sind die sogenannten Vorlaufkurse für Kinder mit sprachlichen Defiziten, die seit 2020 in Hessen verpflichtend sind, was wiederum abgeguckt ist von den Hamburgern.

Aber Minister Lotz hat noch mehr im Köcher. „Eine der guten Entwicklungen der letzten Jahre auch in der Kultusministerkonferenz ist, dass wir es geschafft haben, diese ideologischen Fragen beiseite zu legen und einfach pragmatisch nach Lösungen zu suchen.“ Genau. Als hätte es unsägliche Experimente wie G8 und „Lesen durch Schreiben“, weithin bekannt als „Schreiben nach Gehör“, nicht gegeben. Und als hätten die Kultusminister:innen nicht aus ideologischen Gründen den von der Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger einberufenen Bildungsgipfel geschwänzt, weil sie damit demonstrieren wollten, dass sie sich von der Bundespolitik nicht reinreden lassen und lieber selbst entscheiden, welche Defizite sie weiter ausbauen.

Und dann kommt die Gretchenfrage nach dem Sinn des Föderalismus, wenn es ums Lesenlernen geht. Warum gelten da nicht überall die gleichen Prinzipien? „Weil es keine sichere Erkenntnis über das gibt, was wirklich jetzt das Patentrezept wäre, um diese Defizite zu überwinden.“ sagt der Lotz. Wo er doch vorher den Gleichschritt von Hamburg und Hessen gelobt hat, dem ja wohl doch Erkenntnisse zugrunde liegen müssen, dass etwas funktioniert. Die Moderatorin hakt nach, ob das föderale System wirklich die ideale Lösung sei, weil vieles dadurch viel zu langsam entschieden werde. Ja, gibt Lotz zu, das Gute werde wohl manchmal zu zögernd umgesetzt. Aber „es ist gerade einer der Vorteil des Föderalismus, dass er ein Fehlervermeidungspotential hat.“ Das ist jetzt ein Argument, was in der Debatte noch selten zu hören war. Meint: Zuschauen, wie der Vordermann rechts abbiegt und gegen die Wand fährt, um dann doch lieber geradeaus weiterzufahren. Oder im Museum ein Bild aufzuhängen, um zu schauen, wie es ankommt. Wenn es gut läuft, könnte man ja ein zweites dazuhängen. Schließlich gäbe es ja zentralistische Systeme wie in Frankreich, sagt Lotz, die man nicht übernehmen wolle, und föderale Systeme wie Kanada, die bei PISA sehr gut abschnitten.

Hilft dieser Vergleich? Nö. Sonst wäre ja auch richtig, dass nicht verbeamtete Lehrer:innen in Kanada einen besseren Job machen als Beamte:innen. Nur mal so als Beispiel. Oder meint der Lotz vielleicht das, wenn er von Patentrezept spricht? Mal übers große Ganze und die unsinnige Macht von Schulämtern sprechen? In Hessen mutig vorangehen? Mit dem Elan von vor 20 Jahren? Nur zu!