Gedrängel auf der Goldwaage

„Gut gemeint und schlecht gemacht“ – das ist eine großartige Begründung, wenn man sich nicht traut, ein Buch in Bausch und Bogen zu verdammen. Misslungene Romane über sterbende Eltern oder totkranke Kinder:  Wie könnte der Kritiker da nur so herzlos sein? Schlechte Bücher über Mobbing: Geht nicht, weil die Kritikerin übersähe, wie wichtig Aufklärung darüber doch ist. Und das Kindersachbuch Alle behindert! von Horst Klein und Monika Osberghaus, gleichzeitig Verlegerin des Klett Kinderbuch Verlages? Auch irgendwie nur gut gemeint. Es geht ja um Inklusion, irgendwie, und da fehlt es grundsätzlich an guten Kinderbüchern auf dem Markt.  Aber nicht an diesem Buch, meinen höchst engagierte Menschen wie Daniel Horneber und Tanja Kollodzieyski. Weil eben „gut gemeint und schlecht gemacht“.

Ja, die beiden haben sicher recht, wenn sie, abgeleitet vom Modell der Disability Studies, den Unterschied zwischen einem medizinischen und einem sozialen Modell von Behinderung verdeutlichen. Der die im Buch vorgenommene Gleichsetzung von „Down-Syndom“ oder „Gehörlos“ mit „Tussi“ oder „schüchtern“ nicht folgt. Bewusst nicht. Der Idee einer funktionierenden inklusiven Gesellschaft entspricht das vergleichende Nebeneinander, das in diesem Buch verwendet wird wie Hubraum und Höchstgeschwindigkeit in einem Autoquartett, eben leider genau nicht.

Doch die Kritik geht noch weiter. „Das Buch enthält keinerlei Handlungen. Es erzählt keine Geschichte. Die Protagonist*innen werden einzeln vorgestellt, es wird aber nicht gezeigt, wie die Kinder miteinander spielen. Das Buch kann also keine Verbindung zur Alltagswelt der lesenden Kinder herstellen.“ bemängelt Tanja Kollodzieyski. Ja, das macht eben ein Sachbuch aus, dass es eine bestimmte Form wählt, sich in dieser Form bewegt und deshalb eben nicht den sehr willkürlich gewählten Anforderungen von Kritikerinnen genügt. Trotzdem gelingt es dem Buch, die Alltagswelt der Kinder aufzugreifen. Allein im Titel schwingt das umgangssprachlich benutzte „Bist du behindert!“ schon als Fundament mit, auf dem sich genau dieses formal strenge Nebeneinander mit Erkenntnisgewinn entfalten kann – und zwar für diejenigen, die sich erst mal als nicht-behindert bezeichnen würden. Das funktioniert besser als in konstruierten Bedarfsbüchern wie Die bunte Bande von Corinna Fuchs, Uli Velte und Igor Dollinger.

„Dadurch, dass alle Eigenschaften der Kinder im Buch als Behinderungen bewertet werden, werden die Herausforderungen und Diskriminierungen von Kindern mit Behinderung unsichtbar gemacht.“ Mmh, genau andersherum würde ich die Zielrichtung beschreiben. Diskriminierungen nehmen in diesem Buch eben alle Kinder wahr, und es unterscheidet eben nicht zwischen sozialen und körperlichen Einschränkungen, sondern setzt Einschränkungen auf unterschiedlichen Ebenen gleich. Das genau holt Kinder in dieses Buch hinein, die das zuerst aus der Außenperspektive lesen.

Also, wieder ein Fall für die Goldwaage. Ist Alle behindert! jetzt nur gut gemeint? Doch schlecht gemacht? Oder der richtige Anstoß für Kinder, sich mit einer gesellschaftlich relevanten Frage auseinanderzusetzen? Oder eben doch kein Fall für die Goldwaage?