Toleranz, einseitig verstanden
Am 4.12.2024 erschien auf der sogenannten News-Plattform NIUS – Die Stimme der Mehrheit“ dem Digitalprojekt von Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt, folgende Meldung: „„Raffi und sein pinkes Tutu“: Montessori-Schule kündigt muslimischer Familie nach Beschwerde über Gender-Buch“.
Was war geschehen? In der Montessori-Schule in Trier wurde in der Klasse der 10-jährigen Tochter das Buch Raffi und sein pinkes Tutu von Ricardo Simonetti (Community Editions, 2019) vorgelesen. Ein Buch, wie es in dem Artikel von NIUS heißt, „das von einem Jungen, der gern Röcke trägt, handelt“. Aus diesem Grund, abgeleitet aus dem muslimischen Glauben des Vaters und der Überzeugung, es gäbe nur zwei Geschlechter, „baten die Eltern um eine alternative Beschäftigung oder Lektüre für ihre Tochter.“
So einfach, so falsch. Denn Raffi trägt neben Fußballsachen nur sehr gerne sein Tutu, nicht Röcke. Und die Frage nach dem Geschlecht ist eine davon völlig unabhängige, die in diesem Buch gar nicht behandelt wird, egal, wie oft das auch in dem Artikel und dem Video mit dem Interview mit den Eltern behauptet wird. Wenn überhaupt, dann wäre Tranvestitismus die richtige Beschreibung für das, was der Buchinhalt hergibt. Aber Differenzierung wird nicht nur bei NIUS extrem überbewertet, besonders dann, wenn sich um verabscheuenswürdigen woken Zeitgeist handelt.
Weil die Eltern einerseits darauf beharrten, dass ihre Tochter in der Zeit der Tutu-Lektüre ein anders Buch lesen darf (sollte sie sich dann im Unterricht die Ohren zuhalten, während die anderen Kinder Raffi vorlesen?), andererseits die Schule darauf beharrte, dass es in diesem Buch um Toleranz ginge und entsprechend auf gemeinsame Lektüre, führte dass schlussendlich zur Kündigung der Eltern durch die Schule und anwaltliche Briefwechsel (und mediale Aufmerksamkeit). Für NIUS ein Affront. Da hätte doch die Schule mal eben selbst die Toleranz zeigen sollen, die sie von den Eltern einfordert! Oder zumindest einen Kompromiss finden! Andersrum ist schwierig. Denn die Eltern geben sich auch tolerant, lehnen Rassismus und Bodyshaming vehement ab, aber muss es trotzdem dieses Buch sein?
Dabei ist die Entscheidungsgrundlage der Montessori-Schule eindeutig. Im FAQ-Bereich der Schulwebseite heißt es unmissverständlich: „Eltern, die sich mit ihren Kindern hierfür entscheiden, gehen davon aus, dass die selbst bestimmte Art und Weise des Lernens der Entwicklung des Kindes in besonderer Weise dient; d. h. die Eltern haben sich mit der Montessori-Pädagogik und dem pädagogischen Konzept der Freien Montessori-Schule Trier auseinandergesetzt und vertraut gemacht.“
Aber viel zentraler ist die Absicht, in das Buch die Ideologie hineinzulesen, es werde ein drittes Geschlecht propagiert. Das kommt aber gar nicht vor. „Raffi ist ein kleiner Junge, der gerne Fußball spielt und Sporttrikots trägt.“ Aber wird da gleich eine Transition geschildert, weil er gerne ein Tutu trägt? Nein. Auch Ricardo Simonetti, frisurmäßig durchaus auf Raffis Wellenlänge, taugt als Vorbild nicht. Mama, ich bin schwul lautet der Titel seines letzten Buches aus dem Jahr 2021. Drittes Geschlecht? Fehlanzeige. Auch wenn er selbst mal ein Tutu trägt und sich schminkt.
Und dann heißt es weit hinten im Video: „Meine Frau und ich haben auch nichts gegen Homosexualität, (…) wir wollen nur nicht, dass die Schule das in die Köpfe unserer Kinder einhämmert.“ Und weiter: „Wir wollen eine normale Erziehung.“
Daher weht also der Wind. Ein Wind, der an vielen unterschiedlichen Stellen und von vielen Seiten an Stärke zunimmt. Der mit weit hergeholten Pseudoargumenten versucht, eine einschränkende, wenig an Toleranz ausgerichtete Sichtweise auf Bücher und deren Botschaften, und seien sie auch nur hineininterpretiert, durchzusetzen. Und das wird immer wieder und gerne an Kinderbüchern festgemacht unter dem Vorwand, Kinder schützen zu müssen. Also tragen Jungs Hosen und Mädchen Röcke, wer über Homosexualität liest, wird selber schwul, und wenn queer vorkommt, werden die Kinder erst auf die Idee gebracht usw. usf. Solchen Quatsch zu glauben, hat nichts mit Toleranz zu tun, sondern ist faktisch falsch.
Aber damit das keinen direkten oder auch indirekten Einfluss (wir machen das Buch lieber nicht, das bietet womöglich Konfliktpotential/könnten wir das nicht ein wenig uneindeutiger beschreiben oder benennen?) hat, braucht es Rückendeckung für die, die nicht einknicken, sondern die Freiheit des Wortes auch im Kinderbuch und in der Pädagogik verteidigen.