Der Schwarzmaler-Goliath

Warum werfe ich diese beiden Ereignisse jetzt zusammen?

In den USA musste die Schulleiterin der Tallahassee Classical School (Florida) auf Druck der Schulbehörde ihren Posten räumen, weil sie 11- und 12-jährigen Schüler:innen im Kunstunterricht im Zusammenhang mit anderen Werken Michelangelos David-Statue gezeigt hatte. Also wegen der Eltern, die sich über das „pornografische“ Unterrichtmaterial beschwert hatten bzw. die darüber informiert sein wollten, was im Unterricht gezeigt wird. Um das dann zu verhindern, natürlich. Ob Davids bestes Stück aufgrund seiner Dimension amerikanische Porno-Produzent:innen in Entzücken versetzt, kann ich dabei nur schlecht beurteilen. Nächster Schritt in Florida wird Ende April sein, dass das Thema sexuelle Orientierung aus den Schulen und dem Unterricht verbannt wird. Eine Sprecherin von Senator Ron DeSantis hat dazu schon erklärt: „Es gibt keinen Grund, warum Unterricht über sexuelle Orientierung oder Geschlechteridentität Teil des öffentlichen Bildungssystems vom Kindergarten bis zur 12. Klasse sein sollte. Punkt.“ Schwupps, sind wieder einige Bücher weggeschlossen.

Dazu dann die Meldung aus Baden-Württemberg, die es bis zu einem Filmbeitrag in den Tagesthemen und in den ZDF-Nachrichten und Stellungnahmen von Ministerien bis hin zu Ministerpräsident Winfried Kretschmann gebracht hat: Die Lehrerin Jasmin Blunt aus Ulm weigert sich, das im kommenden Jahr an beruflichen Gymnasien abiturrelevante Buch von Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras im Unterricht zu behandeln. Der Stein des Anstoßes und der persönlichen Betroffenheit: Über 100 Mal und in unterschiedlichen Formen kommt darin das N-Wort vor.

Kann man das vergleichen? Uiuiui, natürlich nicht. Aber in gewisser Weise schon. Weil einzelne Menschen sich mit Rassismus bzw. mit Nacktheit konfrontiert sehen. Und sich aufgrund eigener Betroffenheit oder Überzeugungen davon so verletzt fühlen, ganz gleich ob als Lehrerin oder als Eltern, dass das weg muss. Für alle. Zumindest aus dem Unterricht.

Die Medien suhlen sich in Schlagzeilen, die jede Form vermeintlicher Cancel Culture gerne aufgreifen. Und diese Begeisterung wird sich auf jede neue Meldung stürzen, in der ein noch nicht diskutiertes Thema angeprangert wird.

„Kindern sei es im Übrigen grundsätzlich zuzumuten, mit den Auffassungen und Wertvorstellungen einer pluralistischen Gesellschaft konfrontiert zu werden – auch wenn diese möglicherweise im Widerspruch zu eigenen Überzeugungen stünden.“ heißt es in einer aktuellen Urteilsbegündung des Berliner Verwaltungsgerichts. Ein Vater hatte gegen den Gebrauch von genderneutraler Sprache am Gymnasium seiner beiden Kinder geklagt. Seine Klage wurde abgewiesen. Auch hier tobt die Diskussion auf einem hohen Erregungslevel weiter. Doch diese Begründung reicht viel weiter und trifft den Kern der Sache:

Pluralismus ja, aber nur so, wie ich ihn verstehe. Das ist ein immer massiverer Standpunkt. Ist es nicht Teil meines Pluralismus, setzt sofort ein Gegenreflex ein, meinen Individualpluralismus nach eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Schon steht eine Online-Petition im Raum, wie im Falle des Koeppen-Buches.

Die Geister, die keiner rief, sind jetzt da und gehen auch nicht wieder weg. Im Gegenteil. Bei Autor:innen wie in den Verlagen geht die schiere Angst um, ob das, was da geschrieben und gedruckt wird, nicht wieder Menschen auf den Plan ruft, die sich darin falsch repräsentiert oder verletzt sehen. Kein deutscher Verlag hat offensiv dazu gestanden, mit Sensitivity Readern zusammenzuarbeiten, als sie es schon taten. Und selbst wenn bedeutet das noch lange keinen Freibrief vor jeder Kritik am Text, auch durch eigentlich von den Sensitivity Readern abggedeckten Gruppen nicht.

Kunst und Kultur müssen aufpassen, ob sie wirklich den kleinen Finger reichen wollen. Denn die andere Seite will immer die ganze Hand. Mindestens. Und dann bewegen wir uns in einer immerwährenden Diskussion über die Frage: „Ist das noch durch die Kunstfreiheit gedeckt?“ (oder die Unterrichtsfreiheit) Beantworten wir das doch mit einem klaren und festen JA! Und behalten den kleinen Finger bei uns.