Literatur-Legitimation

Politik ist einfach: Mit der Wahl im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie übertragen wir, die Wähler:innen, die Legitimation für Entscheidungen an die von uns gewählten Politker:innen. Sind wir mit den getroffenen Entscheidungen nicht einverstanden, können wir die Person nicht aktiv abwählen, sondern unsere Stimme bei der nächsten Wahl einer anderen Partei oder einer anderen Kandiat:in geben.

Dieses Modell funktioniert in der Literatur ganz ähnlich: Die Autor:in schreibt aus ihrem Erinnern, ihrem Erleben, aus ihrer Recherche einen fiktionalen Text, in dem sich das mischt. Die Lektor:in begleitet diesen Entstehungsprozess, weist auf Ungereimtheiten hin und hinterfragt. Was an dieser Geschichte wahr ist oder nicht, kann die Lektor:in nicht entscheiden, aber sie kann formulieren, ob die Geschichte für sie wahrhaftig ist. Legitimiert ist der Text durch die Annahme eines Manuskriptes durch den Verlag und die Arbeit der beiden daran Beteiligten. Nur in den seltensten Ausnahmen läuft das aus dem Ruder und wird eine dritte Partei benötigt.

In der Politik hinzugekommen ist der Anspruch auf Bürger:innenbeteiligung. Kaum ein Projekt, in dem Bürger:innen nicht auf unterschiedlichste Art und Weise mit einbezogen werden. Deren Beitrag wird dann gerne als wichtiger Impuls verbucht, einen echten Einfluss auf die Entscheidungen haben sie jedoch nur selten. Viel wichtiger ist der Effekt: Ein Projekt ist durch den Bürger:innenwillen legitimiert. Auch wenn deren Willen wenig konkret und kaum sichtbar war und ist.

In der Kinder- und Jugendliteratur übernehmen Sensitivity-Reader nun diese Form der Legitimierung. Eine Person mit Überschneidung mit den jeweiligen Figuren der Fiktion legitimieren mit ihrem Urteil einen fiktionalen Text. War vor einigen Jahren diese Form des Lektorats-Add-ons im Veröffentlichungsprozess noch ein amerikanisches Phänomen, setzen nun mehr als die Hälfte der Jugendbuchverlage in Deutschland Sensitivity Reader ein, heißt es im SPIEGEL vom 15.10.2022 unter dem Titel „Die große Verunsicherung“. Sie sind Bürgerbeteiligung und Legitimationsfaktor in einem.

Was ist nun genau deren Aufgabe? „Ein*e Sensitivity Reader ist eine Person aus der entsprechenden Gruppe, die das Manuskript auf authentische Repräsentation sichtet“ heißt es auf einer Webseite. In diesem Modell wird nun der einen Person zugestanden, gegen eine, behaupten wir das mal, gründliche Recherche, die vor jedem Schreibprozess liegen sollte, ihre Wahrnehmung zu stellen, die jede Autor:innenbeschreibung sticht. Aber das funktioniert nicht immer. Ein Beispiel: Alle behindert! von Horst Klein und Monika Osberghaus, erschienen im Klett Kinderbuch, in dem 25 Kinder mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen vorgestellt werden, in denen dann „Tussi“ neben „Trisomie 21“ steht. Dass betroffene Kinder an diesem Buch und der Darstellung ihrer Behinderung mitgearbeitet haben, heißt aber noch lange nicht, dass das für Menschen, die authentisch repräsentieren, so stehen bleiben kann. Entsprechend hart ist die Kritik. Wäre das Buch so erschienen, wenn eine dieser Kritiker:innen als Sensitivity Reader das Manuskript in der Hand gehabt hätte? Wohl kaum.

„Es gibt aber wohl viel mehr als zwei Sichtweisen.“ Schreiben die Autor:innen auf diese Kritik hin. Und zumindest an dieser Einsicht mangelt es in der Diskussion, die gar nicht erst geführt wird, wenn denn die geprüfte Legitimation vorliegt. Denn das Richtig oder Falsch steht mauerhoch vor einem So oder So. Welche Folgen das für das Schreiben und die entstehenden Texte hat? Julia Bielenberg, Oetinger-Verlegerin, hat das in dem SPIEGEL-Beitrag wie folgt beschrieben: „“Stilmittel wie Bilder, wie Übertreibungen, wie Sarkasmus und Ironie sind so nicht mehr möglich.“ Die Folge sei eine anspruchslose Literatur, eine Verflachung der Texte. „Und das kann nicht in unserem Interesse sein.“

Wie vermint diese Diskussion ist, zeigt ein letzter Satz aus dem schon erwähnten SPIEGEL-Artikel. Denn als es um Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer geht, steht da „ein mittlerweile weitgehend geächteter Begriff für Schwarze“. Den Michael Ende einer Figur in den Mund gelegt und sie damit charakterisiert hat. Als Rassisten? Spießbürger der 1960er Jahre? Vertrauen wir doch einfach mal den Leser:innen. Nur so als Vorschlag.