Irgendwie divers unangenehm
Die in der medialen Öffentlichkeit geführten Diskussionen um aktuelle Kinder- und Jugendliteratur haben gefühlt gerade ein enormes Ungleichgewicht. Die großen Empörungswellen machen sich nicht an der Frage fest, ob Autor*innen, Illustrator*innen und Übersetzer*innen bis hin zu freien Lektor*innen morgen noch ihrer Arbeit nachgehen können, weil sie trotz der Soforthilfe für Soloselbständige und Mitteln aus dem Bundeskulturfonds kein Einkommen mehr haben.
Stattdessen erscheinen jetzt in überregionalen Medien im Wochenrhythmus Abrechnungen mit der aktuellen Kinderliteratur, der massiv Rassismus, das Verhaften in überholten Rollenmustern und mangelnde Diversität vorgeworfen wird. Am 23.7. sagt die Kita-Leiterin Christiane Kassama in der „ZEIT“: „Jim Knopf wird leider noch oft gelesen. Jim Knopf reproduziert viele Klischees, zum angeblich typischen Wesen und Äußeren von Schwarzen. Jim Knopf ist so, wie sich Weiße ein lustiges, freches, schwarzes Kind vorstellen.“ Diese Aussagen hatten ein großes Echo, auf der ZEIT-Online-Seite finden sich Stand 9.9. 1.228 Kommentare – nicht nur bestätigende. Im fluter, dem jungen Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung, erscheint am 2.9. ein Text mit dem Titel „Klischee, lass nach“ über die Arbeit von Sensivity Readern. Und am 6.9. veröffentlicht SPIEGEL online einen Artikel über Diversität in Kinderbüchern, als Interviews mit einer Mutter, zwei Buchladen-Gründerinnen und einer Literaturkritikerin. Die Betreiberin des Buchblogs buuu.ch, Carla Heher, kommt zu dem Fazit: „Sensitivity Reading“ – ein Prozess aus den USA, in dem Bücher von Betroffenen auf Diskriminierungen überprüft werden – sollte zum Beispiel auch in der deutschen Verlagswelt zum Standard werden.“ Denn das, was große Verlage anbieten, ist in ihren Augen in vielerlei Hinsicht eher enttäuschend.
Allen gemein ist ein Tenor, der besagt: Die aktuelle Kinderliteratur ist defizitär. Das fängt beim fehlenden „Bewusstsein für Themen wie Rassismus“ in den Verlagen an, geht über die Feststellung, dass „die Verlagslandschaft selbst wenig divers ist“, reicht weiter zum Eindruck „Willkommen in den Fünfzigerjahren“ beim Blick in die Kinderbuchabteilungen, und und und.
Ist das so? Und darf man und frau das so einfach stehen lassen?
Fangen wir mal an: Fehlende Diversität in der Verlagsbranche, und damit ist auch die Gruppe der Produzent*innen eingeschlossen, festzumachen, ist schwierig. Das fängt schon damit an, dass Männer in Kinderbuchverlagen unterrepräsentiert sind (außer in Leitungsfunktionen, aber das ist ein anderes Thema), genauso wie in den Kinderbuchabteilungen, Bibliotheken, Grundschulen, KiTas. Das ist nicht neu. Aber ungerecht. Menschen mit Migrationshintergrund sind in Studienfächern unterrepräsentiert, die in die Buchbranche führt. Woher sollen sie denn dann kommen? Das braucht Zeit.
LGBT? Schon eher gegeben, aber nicht jede*r muss das offensiv nach außen tragen. Aber es gibt sie, und die werden, wie alle anderen auch, an der Qualität ihrer Arbeiten gemessen und an nichts sonst. Auch in Verlagen. Ein Buch eines Transgenders wird eben nicht deshalb verlegt, weil es um Transgender geht. Sondern weil es gut ist.
Tja, dann die Frage nach den Klischees. Wie der ‚lustige, freche, schwarze Jim Knopf‘, der so sei wie Weiße sich Schwarze vorstellen. Der bestimmt auch gut singen und tanzen kann, gerne schnackselt, ach, die Reihe ließe sich fortsetzen. Aber was ist die Konsequenz? Muss eine schwarze Kinderfigur immer als Kontra-Klischee angelegt sein, um nicht in die mannigfaltig aufgestellten Fallen zu tappen? Traurig und schüchtern? Im fluter heißt es „Stereotyp: Asiatin, sexualisierte, devote und nerdige Darstellung.“, was die Art von Diskriminierung von Sensitivity Reader Victoria Linnea als „asiatisch gelesener Mensch“ und Teil einer „marginalisierten Gruppe“ beschreibt. Als Kind wäre das Asiatinnen-Klischee adäquat zu Jim Knopf die angepasste, strebsame Geige spielende Mai Ling. Aber muss ich jetzt die asiatischen Eltern in der Musikschule auf genau diese Klischee-Falle ansprechen, wenn sie stolz ihre Tochter dabei bewundern, wie sie sich durch eine Bach-Sonate geigt? Und verdammt, ich kenne jede Menge asiatischer Kinder in der Musikschule. Denn vielleicht gibt es dafür ja noch andere Gründe, die zum Beispiel etwas mit Bildungsbewusstsein zu tun haben.
Von Maxim Gorki stammt der Satz: „Man muss nicht in der Bratpfanne gelegen haben, um über ein Schnitzel zu schreiben“, der für Sensitivity Reader so nicht stehen bleiben kann: Es muss mindestens ein Schnitzel drüberlesen. Oder anders: Als Elfie Ligensa 1971 den ersten Roman über „Dr. Stefan Frank. Der Arzt, dem die Frauen vertrauen.“ schrieb, blickte sie nicht auf eine abgeschlossene Facharztausbildung zurück, sondern auf ein Volontariat bei Bastei-Lübbe. Und hat recherchiert. Denn Literatur ist zuallererst ein fiktionaler Raum, den die Autor*in nach ihren Vorstellungen gestalten kann. Und nicht nach gesellschaftlichen Querschnitten gestalten muss. Viel wichtiger ist die Frage nach der Plausibilität. Glaube ich der Geschichte? Glaube ich den Figuren? Ihrem Handeln? Das verändert sich mit der Zeit, und das verändert sich anders als es die in ihrer Vielstimmigkeit unüberhörbaren marginalisierten Gruppen fordern.
Und wir geraten in Teufels Küche. Wieviel Klischee steckt in der Aussage, dass im Osten die ganzen Nazis wohnen? Ist es ein Klischee, dass der Neonazi Thor Stainar-Klamotten trägt, dumpf aus seinen arisch blauen Knopfaugen blinzelt und kategorisch Ausländer verprügelt? Geht das vom Prinzip her auch nicht? Müsste man den Nazi klischeebefreit als charmanten, höflichen und gebildeten jungen Mann darstellen? Es wird dadurch auch nicht besser.
Deshalb: Es gibt sie längst, die „guten“ Bücher. Auch wenn sie nicht automatisch in den Bestsellerlisten stehen oder als Stapelware angeboten werden. Sonst hätte buuu.ch keine so große Auswahl an diversen Kinderbücher, die sie anbieten könnten. Es gibt sie längst, die guten Bücher, die sich sprach- und bildästhetisch nicht von äußeren Vorgaben knebeln lassen. Das geht, und das geht oftmals besser als die vor Betroffenheit quietschenden Bücher aus der Sebsthilfegruppenproduktion. Und ja, es können noch mehr werden, ohne Frage. Aber ohne Checklisten und Diversitäts-Prüfsiegel und Betroffenenkontrolle. Das schafft die Kinderliteratur schon ganz allein.