Ballermann auf dem Pädagog:innen-Elfenbeinturm

Alle behindert!, so lautet der Titel eines im September 2019 im Klett Kinderbuch Verlag erschienenen Sachbuchs für Kinder, das kurze Zeit später auch über die Bundeszentrale für politische Bildung bpb vertrieben wurde. Die Idee ist schnell erklärt: Ähnlich eines Quartetts oder den vorgegebenen Seiten in einem Freundschaftsbuch werden 25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild, von Down-Syndrom bis Angeber, von Tussi bis Querschnittlähmung in knappen Kategorien nebeneinandergestellt, Kategorien wie: „Wo kommt das her?“ „Geht das wieder weg?“ „Was lasse ich lieber?“ „Vorteil“. Schon ist das Prinzip verstanden. Zusammenwerfen, was vordergründig nicht zusammengehört, und damit den Kernsatz unterstreichen: Wir sind alle gleich und wir sind alle anders, jede:r auf seine Weise. Rigoros aus Kindersicht gedacht und genau so vereinfachend und pauschalisierend umgesetzt, damit die Idee schnell und direkt ankommt. Punkt.

Die Reaktionen waren unterschiedlich. Auf der einen Seite Auszeichnungen wie „Beste 7 im Januar 2020“, „Leipziger Lesekompass 2020“,Longlist des Wissenschaftsbuches des Jahres 2019“, auf der anderen Seite Kritik wie „Unangemessene und unpassende Vergleiche“ von Eltern eines Kindes mit Down-Syndom auf amazon als Beispiel oder das „lebenslange Diskriminierung nicht mitgedacht“ sei in Die neue Form, einem Online-Magazin für Disability Mainstreaming. Es gab Diskussionsbedarf. Bis jetzt. Bis zu einem im Januar 2022 publizierten offenen Brief von Prof. Dr. Dino Capovilla vom Lehrstuhl für Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen an der Universität Würzburg, unterzeichnet von 14 weiteren Professor:innen aus den Feldern Inklusionsforschung, Pädagogik bei diversen Beeinträchtigungen und Bildungsdidaktik. Darin werden die schon 2019 und 2020 genannten kritischen Argumente ausführlich erneuert. So weit, so gut, so legitim in einer offenen und freien Gesellschaft, in der man über Positionen und Sichtweisen streiten darf. Aber dabei bleibt es ganz und gar nicht, leider.

Intention dieses an die Bundeszentrale für politische Bildung gerichteten Briefes ist eine gänzlich andere. „Mit diesem offenen Brief möchte wir erreichen, dass die bpb diese Publikation aus ihrem Programm nimmt“ und weiter am Ende des Briefes: „Wir erwarten von der bpb eine ernsthafte und angemessene inhaltliche Auseinandersetzung (…). Ein erster Schritt in diese Richtung ist eine Distanzierung von der diskutierten Publikation und eine Entfernung aus dem Programm.“

So geht‘s halt nicht, auch nicht im Elfenbeinturm. Eine ernsthafte und angemessene inhaltliche Auseinandersetzung führt man nicht, indem man als Voraussetzung dafür erst mal das Objekt der Auseinandersetzung, das Buch, verbietet. Und genau das ist ja die glasklare Forderung: Buch aus dem Programm entfernen. Und zusätzlich an die bpb noch die Erwartung, sich in den Staub zu werfen, selbstzukasteien und einzugestehen, dass man einen Riesenfehler begangen habe. Das ist ein derart bevormundender Ton, den man ansonsten nur in überkochenden Aktivist:innen-Communities auf Social Media-Kanälen kennt, nicht aber aus Wissenschaft und Forschung.

Nur zur Erinnerung: Neben der im Grundgesetz verankerten Freiheit der Wissenschaft und Forschung, auf die sich sicherlich alle Unterzeichnenden berufen, gibt es auch die im Grundgesetz in gleicher Weise verbriefte Kunstfreiheit, und die gilt auch für Kinderliteratur. Vergessen? Gern geschehen.

Mit dem offenen Brief war und ist es aber offenbar nicht getan. Die Forderung, sich zu distanzieren und seine Meinung zu dem Buch zu revidieren, ging und geht offenbar auch persönlich an Rezensent:innen und an die Jurys, die den Titel ausgezeichnet haben, wie zum Beispiel die Jury der Besten 7 (in der ich Juror bin). Gefühlt wird darin ein erster Erfolg schon gefeiert, denn der Titel ist mittlerweile bei der Bundeszentrale für politische Bildung vergriffen und von der Webseite verschwunden – damit sei ja „ein erstes Ziel erreicht“. Die nun erhobene Forderung an die Jury, sich „in eine kritische inhaltliche Auseinandersetzung mit Ihrer Auszeichnungspraxis (zu) begeben“ klingt in diesem Kontext beinahe drollig. Und es ist fraglich, ob Menschen, die Bücher verbieten wollen, die richtigen sind, um mit ihnen über eine kinderliterarische Auszeichungspraxis zu diskutieren.

Gnädigerweise wird den Juror:innen noch ein Auseinandersetzungs-Ausweg eröffnet, „Sofern Sie Ihre Auszeichnung nicht als Ihr letztes Statement stehen lassen wollen“. Ich für meine Person lasse sie felsenfest stehen. Aus Prinzip. Für den Ballermann-Wild West-Ansatz erst zu schießen und dann zu fragen, wollen wir reden? stehe ich nicht zur Verfügung. Und der entspricht auch nicht meinen Erwartungen an einen universitären Diskurs, ganz gleich zu welchem Thema.