Nix verstehn
Jetzt also eine Sonderauswertung der PISA-Studie, die mit Zahlen belegt: Die Schüler:innen in Deutschland sind laut Studie „Lesen im 21. Jahrhundert“ in vielen zentralen Punkten im Hintertreffen. Mädchen lesen überdurchschnittlich viel besser als Jungen, sozioökonomische Unterschiede wirken sich besonders stark auf die Lesefähigkeit aus, die Lesefreude ist nur noch in Finnland und in Norwegen zwischen 2009 und 2018 ähnlich stark zurückgegangen. Und im digitalen Raum sind selbst die Schüler:innen aus China besser darin, gezielt nach Informationen zu suchen und mit Unsicherheiten umzugehen. Dabei sind die Effekte des Corona-Schul-Lockdowns nicht mal berücksichtigt. Zieht man die Ergebnisse der aktuellen JIM-Studie mit heran, dann sind die apokalyptischen Reiter nicht mehr weit: Die Spaltung in die, die Lesen und Verstehen können, und die, die nix verstehn, manifestiert sich immer weiter.
Ganz ehrlich: Neu ist daran nichts. Also am Befund. Traurig ist, dass wir es bislang nicht geschafft haben, an diesen seit Jahrzehnten bekannten, zentralen Punkten verändernd einzugreifen. Warum eigentlich nicht? Hören wir mal genau hin.
Es gehört zum PR-Standard, eine solche Studienveröffentlichung mit Prominenz zu flankieren, um mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen. Die OECD als Absender, da ist die Kombination Bildungsforscher:in und Politik ideal. OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher übernahm den ersten Teil, Bundesbildungsministerin Anja Karliczek und ihr Landeskultusministerkollege Alexander Lorz aus Hessen den zweiten. Und kurz vor der Online-Präsentation kann es nur so gewesen sein:
„Was ist das für ein Termin um 11?“ – „Vorstellung der PISA-Sonderstudie zu Lesekompetenz und Lesegewohnheiten von Jugendlichen in Zeiten zunehmender Digitalisierung“ – Ach herrje. Muss ich dazu was wissen?“ – „Nein, alles bekannt, alles weiter schlecht, nichts verbessert, Deutschland nur im Mittelfeld, das übliche.“ – „Muss ich was dazu sagen?“ – „Ja, schon, halt auch das übliche. Lesen ganz wichtig, Kompetenzen aufbauen, digitale Medien sinnvoll einsetzen, Schulen müssen das umsetzen.“ – „Ja, gut, also die übliche heiße Luft.“ – „Richtig. Und auf keinen Fall was Konkretes in Aussicht stellen.“ – „Natürlich nicht. Gibt es trotzdem was mit Zahlen, so als Nebelkerze? Oder zielführende Vorhaben, die wir unterstützen?“ – „Ja, warten Sie, hier. Das ist doch was Tolles: Digital Home Learning Enviroment: Gelingensbedingungen elterlicher Unterstützung bei der informationsorientierten Internetnutzung (DigHomeE).“ – „Was soll das sein?“ – „Na, ein Forscherteam sitzt bei Familien zuhause und beobachtet die häusliche Lernumwelt und die Interaktion bei gemeinsamen Internetrecherchen.“ – „Als, nein, ich weiß nicht, wäre mir jetzt irgendwie, sagen wir mal, fördern wir so was wirklich?“ – „Ja. Und noch 49 andere Projekte.“ – „Ja, nee, andere Zahlen. Was man sich besser vorstellen kann.“ – „Die 6 Milliarden aus dem Digitalpakt?“ – „Aber das sag ich doch dauernd. 6 Milliarden. 6 Milliarden. 6 Milliarden. Ich kann‘s schon nicht mehr hören.“ – „Dann halt Lesestart 1-2-3. Finanzieren wir seit 2011.“ – „Mit wieviel Milliarden?“ – „Also, jetzt, aufs Jahr runtergerechnet, mit rund 3.“ – „Milliarden?“ – „Nein, es sind, also, Millionen.“ – „3 Millionen?“ – „Ja.“ – „Gut, nenne ich halt nur den Programnamen, vielleicht fragt keiner nach. Sagt der Lorz auch noch was?“ „Ja, der wird bestimmt noch mal erwähnen, dass er Vorsitzender der Kultusministerkonferenz war und da so Leitlinien entwickelt hat, um Kinder und Jugendliche beim Spracherwerb zu unterstützen und ihre Lesefreude zu wecken.“ – „Leitlinien, Leitlinien, die stehen bei uns auch an der Kaffeemaschine, die Alukapseln bitte in die Recyclingtonne werfen und so. Und was steht da drin?“ – „Keine Ahnung, ich hab‘ die nicht googeln können. Und auf der Seite der KMK finde ich auch nichts.“ – „Dann soll der Lorz halt machen. Hauptsache wir kommen da raus, bevor der Schleicher noch was von uns will. Geld oder so. Wie wir das Problem wirklich lösen.“ – „Ja. Der letzter Lorz-Satz ist dann: ‚Mit der Leseförderung können wir – analog wie digital – gar nicht früh genug beginnen.‘ Und danach vergrieseln wir das Online-Bild vom Schleicher, stellen den Ton ab und schieben das auf technische Probleme.“ – „Sehr schön. Und um die Leseförderung kümmert sich ja jetzt eh der Nationale Lesepakt. Wenn da nichts bei rumkommt, ist der Maas schuld.“ –„Ja, genau so ist es gedacht.“ – „Perfekt, dann mal los. Und was habe ich dann um 12?“ – „Mittagspause.“
Wie wäre es mit Erfahrung, die haben wir schon und sie kostet nichts mehr. Digitale Bildung scheint ja nicht der Hit zu sein, noch immer sind, wie immer in den letzten Jahrhunderten, die Kinder bildungswillig, die früh, am besten von Anfang an, mit den ihnen entsprechenden Angeboten aufwachsen dürfen. Das heißt praktisch: Eltern reden mit ihren Kindern, nicht immer nur mit dem Handy, Eltern spielen mit ihren Kindern, und das mit Freude…und jetzt kommt es: Eltern bieten ihren Kindern von Anfang an Lesestoff! Lesen als Wahrnehmungsorgan ist eigentlich selbstverständlich für Kinder, sie machen eigentlich nichts anderes. Wichtig ist aber, was man ihnen anbietet als Lesestoff: Bilder, die für sie lesbar sind (neuer Pappbilderbücher sind dafür oft ungeeignet), eine Um- und Mitwelt, die sie in ihrer Bedeutung für sich entschlüsseln können usw. Auf bunte Knöpfe drücken hat jedenfalls nichts mit lesen zu tun und wenn Kinder digitale Medien wirklich beherrschen sollen, dann müssen sie erstmal Lust haben zu lesen, sonst ist alle Technik für sie vollkommen unverständlich. Erwachsene sollten sehr schnell aufhören zu meinen aus dem Internet käme die Erlösung für alle Fragen…sie kommt aus dem Verstehen von Zusammenhängen und dazu muss man denken lernen…das braucht Methoden, die jahrhundertelang Kindern geboten wurden: die Wiederholung, die Wiederholung, die Wiederholung, bis sich Neues im Gehirn am richtigen Platz festgesetzt hat…im Gegensatz zu: immer was Neues, das wie ein laues Lüftchen durch den Kopf weht. Kinder wollen dann lernen und Schule ist dann für sie ein Raum voller Abenteuer – das Internet dann übrigens auch, aber nur dann.