Der Super-Duper-Lese-Pakt
Hätte Kirsten Boie das so gewollt? Am Ende ihrer als Hamburg Erklärung bekannt gewordenen Petition forderte sie 2018: „für all diese Zwecke müssen jetzt genügend Mittel in den Haushalten ausgewiesen werden. Das Lesen darf nicht den derzeitigen (kosten)intensiven Bemühungen um die Digitalisierung der Schulen zum Opfer fallen. Unverbindliche Absichtserklärungen reichen nicht mehr aus. Deutsche Grundschulen müssen es schaffen, alle Kinder das Lesen zu lehren!“
Klarer kann ein Aufruf zum Handeln nicht formuliert sein. Jetzt, drei Jahre später, sieht das Handeln wie folgt aus: Am 3. März 2021 fand der Nationale Lese-Summit statt, als Auftakt zum Nationalen Lesepakt, initiiert von Stiftung Lesen und dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Politisch hochrangig besetzt. Verbunden mit großen Erwartungen. Verkündet Bildungsministerin Anja Karliczek den LesePakt Schule, mit der die Bundesregierung und der Bundestag die Leseförderung in den Grundschulen mit X Millionen/Milliarden fördern? Nein. Verkündet Britta Ernst, Bildungsministerin des Landes Brandenburg und amtierende Präsidentin der Kultusministerkonferenz 2021, die Bereitstellung von Mitteln in den Landesbildungshaushalten? Auch nein. Was wollt ihr denn? Ma-o-am?
Der Reihe nach. „Noch immer können zu viele Kinder und Jugendliche in Deutschland nicht richtig lesen. Mit dem Nationalen Lesepakt machen wir und 150 Partner darauf aufmerksam.“ verkündet die Stiftung Lesen begleitend auf Facebook. Ist das etwa schon allumfassend der Zweck des Lesepakts? Auf einen seit Jahren bekannten, aber nie behobenen systemischen Mangel hinzuweisen? Dafür dieser mediale Aufwand? Süffisant bemerkte der Deutschlandfunk-Redakteur Jörg Plath, einer der Wenigen übrigens, der die offiziellen Pressemeldungen nicht eins zu eins widergegeben, sondern sich kritisch dazu geäußert hat: „Man kann offene Türen mit größerem intellektuellem Aufwand einrennen.“
Vielleicht sagt ja Jörg F. Maas, der Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen, noch etwas Konkreteres. Ah, hier kommt‘s: „Mit dem Nationalen Lesepakt haben wir eine nie dagewesene und zukunftsweisende Allianz aufgebaut, die allem voran ein Ziel hat: Alle Kinder in Deutschland können lesen.“ Das erinnert schon sehr an den vorhin zitierten Satz von Kirsten Boie und an ihren Aufruf. So weit waren wir vor drei Jahren schon. Aber wie schaffen wir’s denn jetzt wirklich?
Bei der Suche nach den Handlungskrumen in der Ankündigungsprosa wurde vorübergehend die Nachrichtenredaktion des Deutschlandfunks fündig und sendete am 4.3. unter der Überschrift: „Ein Leseclub für jede Grundschule“: „unter anderem soll in jeder deutschen Grundschule ein Leseclub eingerichtet werden.“ Was in den Worten von Jörg F. Maas tags zuvor in einem SWR2-Interview hingegen so klang: „Es kann in Leseclubs sein, die wir uns für jede Grundschule in Deutschland wünschen.“ Ach so. Wünschen.
Was bleibt ist der virtuelle Zusammenschluss von 150 Partnern, von A wie Amazon bis Z wie ZVEI, dem Zentralverband der Elektroindustrie – die beide bestimmt ein ureigenstes Interesse an lesenden Menschen eint – für Bestellvorgänge einerseits und nicht mehr eigens nachzuschulende Auszubildende andererseits. Der Konsens liegt in einer von vielen Seiten bekräftigten Stärkung des keine finanziellen Mittel benötigenden Ehrenamts. Das ist mehr als eine Watsche für all die professionellen Lesepädagog*innen, die in Rektoratsvorzimmern abgewimmelt werden, weil sie an ihr Klassenstufen-Lesekonzept auch noch eine angemessene Honorarvorstellung anheften. Wo Oma und Opa doch einmal die Woche kostenlos zum Vorlesen vorbeikommen. Einfach mal da draußen nachfragen, woran es hakt.
Bleibt der Bereich Projekte auf der Webseite des Lesepakts, auf der Initiativen und Arbeitsbeispiele gebündelt sind und kurz vorgestellt werden, mitsamt link zu deren Internetauftritten. Als frei verfügbarer Ideenpool und Kontaktbörse. Immerhin.
Und so steuerte die Dramaturgie des Lese-Summits auf einen, nein, zwei Höhepunkte zu: Der Enthüllung zweier Anzeigenmotive. Ein Mädchen und ein Junge von hinten, gehüllt in ein Superwoman/-man-Cape, mit der Headline: „Lesen – eine wahre Superkraft“ Und darunter: „Lesen eröffnet uns die Welt. Und unseren Kindern eine gute Zukunft. Dafür machen wir uns stark.“ Ja, machen wir. Uns stark. Kostet ja auch nix.
Ich habe mir auch den Stream zum Nationalen Lesepakt letzten Mittwoch angesehen. Mit ihren Worten rund um „Wo Oma und Opa doch einmal die Woche kostenlos zum Vorlesen vorbeikommen. …“ haben Sie mir in Ihrem aktuellen Beitrag aus der Seele gesprochen.
Dazu passt dann auch die Sache mit den Leseclubs an Grundschulen. Wir hatten an unserer Schule einen solchen Leseclub der Stiftung Lesen, und es war vieles gut daran. („Hatten“ schreibe ich, weil ich nicht weiß, ob er nach Corona wiederbelebt wird) Zwei Dinge muss ich aber unbedingt loswerden – ganz unabhängig davon, ob sich die Stiftung Lesen für jede Grundschule einen Leseclub wünscht oder ob er tatsächlich an jede Grundschule kommen wird (was ich mir nicht vorstellen kann):
Wir haben immer wieder händeringend Leseclub-Betreuerinnen gesucht. Ältere Herrschaften aus dem Freiwilligenzentrum, wie sie bei uns ehrenamtlich als Lesepaten arbeiten, haben sich die Arbeit mit Kindergruppen nicht zugetraut, sodass ich öfter mal an der Uni Augsburg auf die Suche gegangen bin. Dabei konnte ich sehr engagierte Studentinnen gewinnen. Die Aufwandsentschädigung, die sie für ihre anstrengende und anspruchsvolle Arbeit bekamen, war alles andere als üppig. Das hat einige auch wieder vertrieben, weil sie Geld für ihr Studium verdienen mussten.
Als ich mit einer unserer Leseclub-Betreuerinnen an einer Weiterbildungsveranstaltung der Stiftung Lesen teilnahm, brachte ich die Sache mit der in meinen Augen viel zu schlechten finanziellen Honorierung zur Sprache. Eine der älteren teilnehmenden Damen, Leseclub-Betreuerin an einer anderen bayerischen Schule, kam in der Pause zu mir und sagte: „Danke, dass Sie das mit dem Geld angesprochen haben. Meine Freundin und ich, wir machen das wirklich gerne. Das ist wertvoll. Aber wir sind arm. Wir wären so froh, wenn es ein bisschen mehr Geld gäbe. Wir brauchen das Geld.“ Das hat mich tief berührt. Wenn man die Arbeit wirklich für wertvoll hält, muss sie auch anständig bezahlt werden.
Ein Leseclub an jeder Grundschule löst ganz sicher nicht das Problem. Erstens kommen nur einige Kinder in den Leseclub und eher nicht die, die das Lesen von vorneherein ablehnen. Und zweitens wird dort das Lesen nicht systematisch geübt, sondern – wenn es gut geht – die Beziehung der Kinder zum Lesen verbessert. Letzteres ist natürlich super. Auch Sprachförderung geschieht hier, wenn gut gearbeitet wird. Aber es werden mithilfe eines Leseclubs nicht all die Kinder bessere Leser*innen, die es dringend werden müssten.
Heidemarie Brosche