Lesen können allein hilft nix

So. All denjenigen, die bis zum Ende der Grundschulzeit nicht sinnerfassend lesen können oder später dann als funktionale Analphabeten durchs Leben stolpern, wird geholfen. Der Nationale Lesepakt spuckt in die Hände und ist sich sicher wie Bob der Baumeister: Yo, wir schaffen das! Alle lesen!

Blöd nur, dass lesen allein längst nicht alle Probleme aus der Welt schafft. Sondern neue, nicht minder ernste erzeugt. Lesen, aber nix richtig verstehen, ist eine ebenfalls nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Gefahr. Das belegen aktuelle Zahlen: Die digitale Medienkompetenz auch von jungen Menschen, erhoben in einer repräsentativen Studie der Stiftung Neue Verantwortung und veröffentlich im März 2021, birgt erstaunliche Schwächen. Denn die Befragten können Werbung, Falschinformationen oder Meinungsbeiträge nicht oder nur schwer von seriösen Informationen trennen. Und schon feiern im Netz Alternative Facts und Fake News, Verschwörungstheorien und Aluhut-Geschwurbel fröhliche Urständ.

Die auf den Social-Media-Plattformen zähneknirschend eingesetzten Kennzeichnungen zu Desinformationen helfen auch nicht: Maximal ein Viertel der Befragten konnte diese Markierungen bei Facebook, Twitter oder YouTube richtig einordnen. Noch mehr Erkenntnisse zum Kopfschütteln gefällig? Bitte sehr. Mehr als ein Viertel (27 %) hielt die Anzahl der Likes und Kommentare für einen hilfreichen Hinweis auf die Vertrauenswürdigkeit einer Nachricht. Logisch. Die Seriosität eines Accounts bemisst sich ja direkt an der Anzahl der Follower. Und die Aussage „Jemanden online zu beleidigen kann über 1.000 Euro kosten“ erkannten nur 46 % als wahr, all anderen waren sich unsicher oder bezeichneten sie als falsch. Ne, is klar, ihr Hurensöhne.

Zu diesen Zahlen passt ein Befund von Prof. Dr. Maik Philipp von der Pädagogischen Hochschule Zürich, der ziemlich regungslos wahrgenommen wurde. Philipp  spricht nach der Auswertung einer Metaanalyse von einem klar bezifferbaren „Mediumseffekt“. Das heißt, der Wechsel des Lesemediums verändert das Leseverstehen. Und das ernüchternde Fazit lautet: Es gibt einen „Bildschirm-Unterlegenheitseffekt“. Eher geringer bei schöngeistiger Literatur, deutlich größer bei Sachtexten. Sprich: Dann, wenn ich mich im Internet über Themen informiere, bleibt weniger hängen als wenn ich mir das in gedruckter Form anschaue.

Zusammengenommen heißt das ziemlich eindeutig, dass mangelnde Medienkompetenz durch mehr Einsatz von digitalen Medienformaten nicht aufgewogen werden kann. Der Hang zur Oberflächlichkeit ist ein Makel, dem medienpädagogisch mit angepassten Lesestrategien begegnet werden muss. Zum Beispiel „Sourcing“ – gemeint ist hier „als lesende Person auch Informationen über die Informationen (Wer hat was warum und wie geschrieben und wie in Umlauf gebracht?)“ (Philipp) zu erkennen und zu nutzen. Oder intertextuelles Integrieren, das Verbinden von unterschiedlichen Inhalten aus verschiedenen Dokumenten/Medien. Der Mangel an diesen Strategien führt zu, siehe oben, der fehlenden Medienkompetenz. Also: Nach dem Nationalen Lesepakt als nächster Schritt ein nationaler Medienpakt. Um schon Teens beizubringen, dass das von unzähligen Influencern bejubelte SmileSecret Phonebleaching® für schlappe 119,- Euro beim chinesischen Onlinehändler wish schon für 9 Euro plus 5 Euro Versandkosten zu haben ist, aber genauso wenig bringt. Und Erwachsenen, dass RT.de selbsterklärend „eine autonome, gemeinnützige Organisation (ist)“ die, ja wer ahnt es bei dem Namen Russia Today, „die aus dem Budget der Russischen Föderation öffentlich finanziert wird.“

Und noch was: Die Social Media-Kanäle als sendende Medien endlich einer stärkeren Kontrolle unterstellt werden, was die inhaltliche Sorgfaltspflicht und die Nachverfolgung von Hass und Hetze angeht und in gleicher Weise die ordnungsgemäße Versteuerung der Werbeeinnahmen dort, wo sie er erzielt werden.