Die Nacht des lebenden Toten

Der ein oder andere wird sich noch an ihn erinnern, an den Mann mit dem Mao-Gedächtnis-Anzug, der, nett gesagt, äußerst meinungsfreudig jede Kinderliteraturtagung und jede Debatte der 1990er Jahre mitgeführt hat. Der über Jahre hinweg die Internationalität des Deutschen Jugendliteraturpreises als Staatspreis kritisiert hat, starr festhaltend an dem schon in JuLit 2/1998 veröffentlichten Aufsatztitel: Deutsche Kinder- und Jugendliteratur im Abseits. Gemeint ist Dr. Wolfgang Bittner.

Sein letztes Jugendbuch erschien 2007 im Laetitia Verlag, Flucht nach Kanada. In die Tat umgesetzt hat Wolfgang Bittner den Titel nicht, er ist noch da. Und publiziert. Oder gibt Interviews. Zum politischen Tagesgeschehen. Zum Beispiel 2015 im russischen Staatsfernehen Rossila 1, vorgestellt als Dichter und Denker, produziert von RT, Russia Today (auf YouTube auffindbar). Dort berichtet er, wie die Nato und die USA die westdeutschen Medien infiltrieren, damit die „nichts negatives und kaum etwas kritisches“ über sie sagen. „Die deutschen Medien … lügen zum Teil auch und verdrehen die Tatsachen.“ meint er. Die Annexion der Krim sei eine Sezession gewesen, die sich aus freien Wahlen ergeben hätte. Und dann prangert er Hollywood an mit „diesen furchtbaren Filmen, in denen Konfliktlösungen mit Schießen, Stechen, Hauen vor sich gehen.“ Und die den Menschen auf der Welt etwas sehr Aggressives vermitteln. „Auch da muss sich ein Mentalitätswechsel vollziehen.“

Na klar, da ist er auf der östlichen Seite der Macht goldrichtig, bei dem freien, sich bedroht fühlenden und nur selbstverteidigenden Russland. Oder bei Donald Trump, den er als Fönfrisur gewordenen Wiederstand gegen Establishment und Deep State sieht, unter andere, weil er versprach, Frieden mit Russland herzustellen. (siehe NachDenkSeiten, 11.9.2020) Wenn ihn das US-Establishment nicht daran gehindert hätte.

Und als hätte es die damalige Kritik an Konfliktlösung durch Schießen, Stechen, Hauen aus Hollywood gar nicht gegeben, kommt der „Andersdenker“ am 3. März 2022, also am achten Tag nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine und der Flucht Hunderttausender Menschen in die Nachbarländer, mit folgender Überschrift daher: „Ein irrer Propagandafeldzug gegen Russland“ (apolut, 3.3.2022), also der völlig falschen Wahrnehmung dieses Konflikts durch die westliche Öffentlichkeit, angetrieben durch die ja, man ahnt es schon, infiltirierten Medien. Wie bitte? Klar, Schuld ist der Westen, der modernste Waffen an die Ukraine geliefert hat, die dort gegen die Separatisten eingesetzt werden sollten. „Ob dieser Krieg Russlands gegen die Ukraine völkerrechtswidrig ist, oder ob es sich vielmehr um Notwehr gegen eine existenzielle Bedrohung handelt, ist bisher von keiner Seite untersucht worden, das Thema ist tabu.“ Notwehr heißt also, proaktiv in ein anderes Land einzumarschieren, Städte einzukesseln und gewaltige Kollateralschäden an der Zivilbevölkerung in Kauf zu nehmen, nach dem Motto, selbst schuld? Ein derart verbohrter, relativierender Blick auf die Ereignisse vor Ort ist nur sehr schwer auszuhalten.

Übrigens, auf apolut sind auch die gesammelten Inhalte von Ken FM verfügbar, als Akt der freien Meinungsäußerung und der Sichtbarmachung einer wichtigen Stimme. Das nur zur Einordnung des nicht nur querdenkenden Kanals.

Warum ich das alles aufzähle? Deshalb: Weil Dr. Wolfgang Bittner noch immer Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (von 1997 bis 2001 war er dort sogar im Bundesvorstand) und im PEN ist. Echt jetzt? Immer noch? Braucht es da diese Art von Gegenmeinung? Von Russland-Anbiederung? Von großer Lust an Deep State-Verschwörungsmythen? Wirklich?